Bitte ohne Weichspüler

Man könne Kinder nicht von schlechten Nachrichten abschotten. Das meint der Psychologe Stephan Grünewald. Aber man sollte ihnen helfen, die Ereignisse einzuordnen.

Die drehscheibe sprach mit ihm über das Thema Kindermedien in Zeiten der Krise und fortschreitenden Digitalisierung.

Herr Grünewald, wenn man Fernsehnachrichten sieht, wird man überschwemmt mit schrecklichen Bildern von Kriegen und Katastrophen. Was bedeutet es für Kinder, wenn sie diese sehen?

Stephan Grünewald, rheingold Foto: Jurga Graf

Stephan Grünewald, rheingold Foto: Jurga Graf

Es ist absolut wichtig, dass Kinder diese Bilder und Nachrichten von ihren älteren Bezugs­personen eingeordnet bekommen. Klar ist aber auch, dass man diese Themen nicht aussparen kann. Wenn Unruhe in der Familie oder in der Gesellschaft entsteht, spüren das die Kinder sowieso. Man muss die Phänomene benennen, sie in einfachen Worten ­beschreiben und so für Kinder nachvollziehbar machen. Mitkriegen werden sie es sowieso, wenn die „Tagesschau“ im Wohnzimmer läuft oder die Tageszeitung auf dem Küchentisch liegt. In welcher Form sollen diese Themen angesprochen werden?
Kriege, Aggressionen, Vernichtungswünsche gehören ja auch zur kindlichen ­Realität. Schon die Grimm’schen Märchen haben solche Dinge aufgegriffen, sie werden deshalb oft als brutal gebrandmarkt. Auch diese Märchen waren Formen, in denen den Kindern eigene Abgründe, Irrwege, Aggressionen etc. vor Augen geführt wurden. Es war ein Umgang mit diesen Themen. Es geht also nicht darum, alles in Watte zu packen und den Kindern die Grausamkeiten vorzuenthalten. Eher geht es darum, den Kindern zu erklären, warum diese Dinge passieren, wer daran beteiligt ist und wo sich das abspielt. Die Kinder sind ja häufig nicht in der Lage, das unmittelbare Bedrohungspotenzial, das zum Beispiel von dem Krieg in Syrien ausgeht, zu ermessen. Das muss eingeordnet und verortet werden, sodass sie die Alltagsrelevanz einschätzen können. Der Straßenverkehr ist für sie auch gefährlich, aber auf eine andere Art als der Krieg in Syrien. Wichtig ist, dass sie verstehen, wie widersprüchlich die Welt ist, in der sie leben.

Hat sich dieses Vermittlungsproblem durch die Digitalisierung der Medien verändert?
Die Digitalisierung führt dazu, dass die Nachrichten mit einer punktuellen Wucht aufprallen. Man findet hier nicht diese Verarbeitungstiefe wie etwa in Zeitungen vor, die es ermöglicht, Ereignisse fassbar zu machen. Über Facebook werden die Kinder ziemlich direkt mit all diesen schrecklichen Ereignissen konfrontiert. So war es zum Beispiel auch bei dem jüngsten Amoklauf in München. Da konnten Kinder über Facebook oder Snapchat schon sehr frühzeitig das Video sehen, in dem der Attentäter zu erkennen war und auf Passanten schoss. Umso wichtiger ist es, den Kindern dann die Hintergründe zu erklären. Das geht ja auch den Erwachsenen so: Die sitzen dann stundenlang vor dem Fernseher und wollen Informationen erhalten, die es ihnen ermöglichen, das Geschehene zu begreifen und einzuordnen.

Sollten Lokalzeitungen über Kanäle wie Facebook und Snapchat in solchen Fällen eine spezielle Berichterstattung für Kinder anbieten?
Wenn es ihnen gelingt, das Geschehene in eine klare, nachvollziehbare Logik zu bringen, dann ja! Bei den Lokalzeitungen ist es ja ­inzwischen so, dass das Lokale dem ­Leser ermöglicht, sich in eine Welt zu begeben, die vertraut und überschaubar erscheint. Die Hinwendung zum Lokalen soll auch ein bisschen die Wirrnisse unserer komplexen Welt bannen. Das Lokale ist für den Erwachsenen eine Hinwendung zum persönlichen Nahbereich. Bei den Kindern entspricht das momentan eher der wundersamen Verwandlung der Welt durch Pokémon Go und diese Gestalten, die überall in der Welt auf sie warten und lauern. Was sind also die Interessensfelder des kindlichen Wirkungsraums? Wo kann man an­docken? Das muss man herausfinden.

Worauf sollten Lokalzeitungen insbesondere in der Berichterstattung über Flüchtlinge achten?
Flucht ist ja in gewissem Sinne für Kinder auch eine Erfahrung, die sie selbst machen. Wir sind ja so gesehen alle Heimatflüchtlinge. Wir mussten alle die paradiesischen Zustände hinter uns lassen, die wir aus der frühen Kindheit kannten – spätestens mit der Einschulung. Die Heimatliebe der Menschen hat immer eine wehmütige, leicht resignative Note. Heimat wird als ein Zustand beschrieben, in dem man sich noch im Sicheren wähnt, unter der Obhut der Mutter, wo die Welt noch offen war. Dieses Geborgenheitsparadies, an das man als Kind geglaubt hat, geht irgendwann verloren. Früher oder später müssen wir aufbrechen in eine große, fremde, ungeheuerliche Welt. Von daher ist das Flüchtlingsthema für Kinder sehr relevant, weil es ein entwicklungspsychologisches Problem aufgreift, wie es zum Beispiel auch im Märchen von Hänsel und Gretel der Fall ist. Wir müssen irgendwann fort von zu Hause, und am liebsten würden wir uns in das nächste Zuckerhäuschen flüchten, aber dieses Häuschen …

… ist ein Hexenhaus.
Genau. Wir müssen uns von dem Paradies lösen, und die Befreiung kommt – wie im Märchen – erst, wenn wir uns auf eigene Füße stellen und uns von der Übermutter – der Hexe – befreien. Beim Flüchtlingsthema ist es wichtig, all das über persönliche Geschichten nacherlebbar zu machen. Wie ist das, wenn man alleine losgeschickt wird? Wenn Mutter und Vater einem nicht beistehen können? Das erleben die Kinder in einer kleinen Dimension in ihrem Alltag auch. Sie müssen zwar nicht ihre Heimat verlassen, aber sie müssen die Schule wechseln, vertraute Sphären verlassen, ihnen wird vieles abverlangt, sie müssen sich in der Schule durchsetzen usw.

Das heißt also: Krisen sind ein Teil der Realität von Kindern. Was heißt das für Medienschaffende?
Die Kinder brauchen keine weichgespülte Berichterstattung. Die Frage ist: Welche ­Rolle spielen solche Dinge im Leben der Kinder? Auch die Kinder merken, dass sie ihre Paradiese verlassen und sich auf einen ungewissen Weg machen müssen. Medien müssen herausfinden, was die kinderrelevante Analogie bei einem jeweiligen Thema ist. Dann wissen sie auch, wo sie die Kinder in der Berichterstattung abholen können. ­Wichtig ist auch, dass die Geschichten personifiziert werden, denn das schafft eine andere Ansprechbarkeit für Kinder.

Interview: Stefan Wirner

Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe und Mitbegründer des Rheingold-Instituts.
Telefon 0172 – 929 97 13
E-Mail gruenewald@rheingold-online.de
Internet www.rheingold-markt­forschung.de